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Selbstjustiz

Nancy Faeser: „In einem Rechtsstaat darf es keinen Raum für Selbstjustiz geben“

Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden hat mit Urteil vom 31.05.2023 – 4 St 2/21 – die Angeklagte Lina E. und drei weitere Angeklagte zu Freiheitsstrafen verurteilt. Daneben hat es mehreren Geschädigten Schmerzensgeld sowie Schadensersatz zugesprochen. Einen Teil der Vorwürfe hat der Senat als nicht erwiesen angesehen.

Aus der Pressemitteilung des OLG v. 31.05.2023:

Die Angeklagte Lina E. wurde wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Diebstahl und Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Im Übrigen wurde die Angeklagte von dem Vorwurf der Beteiligung an zwei weiteren gefährlichen Körperverletzungen freigesprochen.

Und dann stellt sich diese Ministerin hin und behauptet, es handelte sich um Selbstjustiz. Ich bin fassungslos.

Wie so häufig, hilft ein Blick in den Duden oder Wikipedia: „Als Selbstjustiz (oder Eigenjustiz) bezeichnet man die gesetzlich nicht zulässige Vergeltung für erlittenes Unrecht, die ein Betroffener im eigenen Namen selbst übt.

Eine der Taten beschreibt der Senat des OLG wie folgt:

a) Am 8. Januar 2019, kurz nach 11.00 Uhr, griff die Vereinigung im Leipziger Stadtteil Connewitz einen mit Kanal- und Rohrreinigungsarbeiten beschäftigten Arbeiter an, der eine Strickmütze eines in »rechten Kreisen« beliebten Modelabels trug. Während die Angeklagte Lina E. einen Arbeitskollegen unter Vorhalt eines großen Reizstoffsprühgeräts davon abhielt, einzugreifen, schlugen mindestens vier Angreifer den Arbeiter so zusammen, dass dieser zeitweise das Bewusstsein verlor. Der Geschädigte erlitt durch die Misshandlungen Kopfplatzwunden, mehrfachfragmentierte Brüche des Jochbeins sowie weitere schwere Verletzungen. Knochenfragmente mussten mit einer Metallplatte fixiert werden. Von der grundsätzlich notwendigen Entfernung der Platte wurde abgesehen, weil der Geschädigte möglicherweise erblinden würde.

Selbstjustiz? Frau Faeser, Herr VorsRiOLG, wir sprechen nicht dieselbe Sprache. Das ist noch nicht einmal als Vigilantismus zu bezeichnen, denn auch dabei steht die Herstellung von Gerechtigkeit im Vordergrund. Schwere Körperverletzungen sind niemals gerecht, erst recht nicht als Sanktion.

 

 

 

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Sexualstrafsachen

Strategie des Verteidigers in Sexualstrafsachen

Aussetzung von Verfahren wegen Besitzes von Kinderpornografie

Bei den Schöffengerichten trudeln neben anderen Sexualstrafsachen nach und nach die Verfahren wegen Besitzes von Kinderpornografie ein, die der Strafandrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe unterliegen.

Zumindest zwei Amtsgerichte legten bereits ihre Akten in konkreten Normenkontrollverfahren dem Bundesverfassungsgericht vor. Wir berichteten bereits: Kinderpornografie

Beide Vorlagebeschlüsse nehmen uns Verteidiger in Sexualstrafsachen in die Pflicht, in Verfahren, die im Grunde klassische minder schwere Fälle darstellen, die Aussetzung des Verfahrens und ein Abwarten der Entscheidung der Verfassungshüter zu beantragen und durchzusetzen.

Die Aussetzung eines Verfahrens im Hinblick auf ein beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Normenkontrollverfahren ist für das Strafverfahren gesetzlich nicht geregelt. Nach herrschender Auffassung ist sie in entsprechender Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO zulässig; vgl. Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss vom 31.10.2022 – 2 RBs 155/22 – und wird vom Gericht mehr als nur in Betracht zu ziehen sein, sofern die Gültigkeit der unbedingten Strafandrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe für den Besitz von Kinderpornographie entscheidungsrelevant ist.

Eine Aussetzung entsprechend § 262 Abs. 2 StPO führt nicht zum Ruhen der Verfolgungsverjährung.

Unsere Erfahrung in Verfahren wegen Besitzes von Kinderpornografie zeigt, dass sowohl Schöffengerichte als auch Staatsanwaltschaften durchaus geneigt sind, den Weg der Aussetzung zu befürworten.

Bildanzeige eines Smartphones mit Nachrichteneingang

Kinderpornografie

Mindeststrafe für Besitz von Kinderpornografie verfassungswidrig?

Das AG Buchen strengt ein weiteres Normenkontrollverfahren wegen Besitzes von Kinderpornografie an

Nachdem bereits das AG München – ein konkretes Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht – 2 BvL 11/22 – angestrengt hat, hält nunmehr auch das AG Buchen die Mindeststrafbarkeit von einem Jahr für den Besitz von Kinderpornografie wegen des Verstoßes gegen das Übermaßverbot für verfassungswidrig und legt sein Verfahren dem BVerfG vor.

Es mehren sich somit die Stimmen kritischer Amtsrichter, die die ihnen vom Gesetzgeber aufgezwungene Mindestbestrafung von einem Jahr Freiheitsstrafe für den Besitz von Kinderpornografie für verfassungswidrig halten.

Der Vorlagebeschluss des AG Buchen – Beschluss vom 01.02.2023 – 1 Ls 1 Js 6298/21 – ist beim Kollegen Burhoff im Volltext veröffentlicht.

Das Schöffengericht Buchen kam nach durchgeführter Beweisaufnahme zu dem Ergebnis, dass sich die Angeklagte wegen Besitzes von kinderpornografischen Inhalten in Tateinheit mit dem Besitz jugendpornografischer Inhalte strafbar gem. §§ 184b Abs. 3, 184c Abs. 3, 52 StGB gemacht hat.

Auf dem Handy der Frau wurden automatisch gespeicherte Inhalte aus WhatsApp Chats mit kinder- und jugendpornografischem Inhalt festgestellt.

Die Besonderheit des Falles bestand somit darin, dass die nicht vorbestrafte, kooperierende Angeklagte unfreiwillig in den Besitz dieser Inhalte gekommen war, kein Interesse daran hatte und den Besitz aus Nachlässigkeit aufrechterhalten hat, mit dem Gedanken die Dateien irgendwann später einmal zu löschen.

Das Gericht wertete dieses Unterlassen der dauerhaften Löschung der Dateien, deren Besitz sie zwar unvorsätzlich erlangt hatte, aber trotzdem als vorsätzlichen Besitz und hätte die Angeklagte demzufolge zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilen müssen.

Das Amtsgericht begründet seinen Vorlagebeschluss nicht ausschließlich mit dem allgemeinen Verweis auf den im Gesetz fehlenden minderschweren Fall, sondern weist dem Gesetzgeber konkret nach, dass er den Fall des unfreiwilligen, aber vorsätzlichen Besitzes von kinderpornografischen Inhalten bei seiner Strafrahmenvorgabe nicht bedacht hat.

Das Verfahren ist nicht nur für alle diejenigen, die in zahllosen WhatsApp-Gruppen aktiv sind und ihren Handyspeicher nicht regelmäßig löschen von Bedeutung, sondern bietet uns Verteidigern gute Argumente, in vergleichbaren Verfahren, die im Grunde nach einer Opportunitätsentscheidung oder Geldstrafe schreien, die Aussetzung unserer Verfahren durchzusetzen.

Insbesondere in derart emotional aufgeladenen Verfahren ist eine professionelle Verteidigung geboten.

Tagessatz StGB

5,- € Tagessatz statt sonst üblicher 15,- €

Im Moment herrscht wegen des Tagessatz-Themas Eiszeit zwischen dem Richterbund und der Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers.

Worum gehts?

Geldstrafen setzen sich aus der Zahl und der Höhe der Tagessätze zusammen, § 40 StGB. Dabei soll die Zahl der Tagessätze der Unrechtsbewertung der Tat entsprechen und die Höhe des Tagessatzes den Einkommensverhältnissen des Täters.

Die in der Presse überwiegend vorkommende Berichterstattung über den Betrag der Geldstrafe ist daher wenig aussagekräftig. Eine Geldstrafe in Höhe von 3.000 € kann eine hohe Strafe sein (200 Tagessätze à 15 €) oder eine niedrige bei einem Besserverdiener (10 Tagessätze à 300 €).

Das Gesetz gibt dem Richter dabei eine klare Anweisung, § 40 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB:

Die Höhe eines Tagessatzes bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Dabei geht es in der Regel von dem Nettoeinkommen aus, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte.

Der Sozialhilfeempfänger wird daher regelmäßig mit 15 € Tagessatzhöhe belastet (450 € / 30 Tage).

Strafbefehlsverfahren

Dem möchte die Generalstaatsanwältin Berlins, Frau Margarete Koppers, nun ein Ende bereiten. Dabei schwingt sie sich zur Gesetzgeberin auf und fordert von ihren Staatsanwälten die Mißachtung des § 40 Abs. 2 StGB, an den selbstverständlich auch die Staatsanwälte im Rahmen ihrer Anträge gebunden sind.

Sie hat den Staatsanwälten ihrer Behörde angeblich per Verfügung empfohlen, „für Personen mit Einkommen am Existenzminimum Geldstrafen von nur noch 5 Euro Tagessatz – statt sonst meist 15 Euro – zu verhängen“ [1], berichtet u.a. der rbb.

Wie bitte? Hier ändert eine Behördenleiterin der Exekutive ein Gesetz und will die Judikative zu einer von ihr bestimmten Entscheidung zwingen? Da ist doch die Gewaltenteilung vor? Schließlich werden Gesetze von der Legislative geändert und der Richter als Organ der Judikative entscheidet über die Höhe der Strafen.

Eigentlich könnte dem Richterbund diese Verfügung daher egal sein. Gäbe es da nicht das Strafbefehlsverfahren nach §§ 407 ff StPO. In der Praxis entwirft der Staatsanwalt bereits auf dem Briefkopf des Gerichtes einen Strafbefehl, der nur noch durch das Aktenzeichen des Gerichtes, das Datum und die Unterschrift des Richters am Amtsgericht ergänzt werden muß.  Der Entwurf enthält also bereits die ausgeworfene Strafe in Zahl und Höhe der Tagessätze.

Will der Richter also nicht auf den 5 €-Zug aufspringen, so darf er den Strafbefehlsantrag nicht ausfertigen und muß vielmehr eine Hauptverhandlung anberaumen. Dafür stehen die zeitlichen und personellen Mittel nicht zur Verfügung und der Entlastungsgedanke des Strafbefehlsverfahrens wird konterkariert.

Denn immerhin wurden in Berlin im Jahr 2021 mehr als 27.000 Verfahren ( 8,39 %) der Staatsanwaltschaft durch einen solchen Antrag erledigt. Wir berichteten: Statistik Staatsanwaltschaft Berlin.

Wie wird wohl die Leistung eine Staatsanwaltes für Beförderungen, etc. bewertet, der dieser Empfehlung der Hausspitze nicht nachkommt? Hat er genug Schneid, sich an Recht und Gesetz zu halten?

 

 

  1. [1]Liebe Journalisten des rbb: Ist es zuviel Staatsbürgerkunde verlangt zu wissen, daß Strafen nicht von der Exekutive (Staatsanwälten), sondern von der Judikative (Richtern) verhängt werden?
Frosch zieht einen Trolly hinter sich her

„Cum-Ex“- Lehrfall

„Cum-Ex“ hat nun auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Mit Beschluß vom 27.01.2023 – 2 BvR 1122/22 – hat es die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen und diesen Beschluß ausführlich begründet.

Zweimal „Cum-Ex“

Der Beschwerdeführer sah sein Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt. Am 1. Juni 2021 verurteilte ihn das Landgericht wegen fünf Fällen der Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Am Urteil waren zwei Richter beteiligt, die zuvor am – in einem anderen Verfahren gegen zwei Börsenhändler wegen Beihilfe zu Steuerstraftaten gefällten Urteil – beteiligt waren. Die schriftlichen Urteilsgründe des ersten Urteils enthielten auch Ausführungen zur Rolle des – an jenem Verfahren unbeteiligten – Beschwerdeführers als Haupttäter.

Zusammengefaßt in anderen Worten:

  1. In einem Verfahren ohne Beteiligung des Beschwerdeführers wird im Urteil ausführlich dargestellt, daß er gemeinschaftlich mit weiteren Personen vorsätzlich rechtswidrige Steuerstraftaten begangen habe.
  2. Zwei der Richter des 1. Verfahrens sind nun im 2. Verfahren dazu berufen, über den Vorwurf der Cum-Ex-Geschäfte zu urteilen.

Recht auf den gesetzlichen Richter

Der Beschwerdeführer meint nun nachvollziehbar, der Vorsitzende und der Berichterstatter seien ihm nicht unvoreingenommen entgegengetreten, weil diese Richter schon an dem Prozess gegen den als Gehilfen des Beschwerdeführers verurteilten Börsenmakler mitgewirkt hätten. In diesem ersten Verfahren seien sie schließlich zum Ergebnis gekommen, daß er vorsätzlich diejenigen Steuerstraftaten begangen habe, die nun Gegenstand des zweiten Verfahrens sind.

Das BVerfG beschließt, das sei rechtens.

Das deutsche Verfahrensrecht ist von der Auffassung beherrscht, ein Richter könne auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe (vgl. BVerfGE 30, 149 <153 f.>).

Zweifel sind aber dann möglich, schreibt das BVerfG in den Beschluß, „wenn ein innerstaatliches Gericht nicht nur die Tatsachen beschrieben hat, die einen später angeklagten Täter betreffen, sondern darüber hinaus dessen Verhalten, ohne dass dazu eine Notwendigkeit bestanden hätte, rechtlich bewertet hat (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 48, NJW 2021, S. 2947 <2949>).

Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen, schließlich mußte im ersten Verfahren wegen der Beihilfe die vorsätzlich begangene Haupttat dargelegt werden und Ausführungen zur Schuld seien schließlich nicht erfolgt. Eine Befangenheit der vorbefaßten Richter ergäbe sich daraus nicht.

Wir sind gespannt, ob der EuGH im Hinblick auf Art. 6 MRK das auch so sieht.

Wörtliche Aufzeichnung der Verhandlung im „Cum-Ex“-Verfahren

Das „Cum-Ex“-Verfahren ist aber auch aus einem anderen Grund von besonderem Interesse. Das BVerfG zitiert in wörtlicher Rede eine Äußerung des Vorsitzenden Richters am Landgericht Bonn aus einem Rechtsgespräch mit den Verfahrensbeteiligten:

Dann gibt es noch einen Punkt – den haben Sie eben kurz angesprochen, Herr [Verteidiger]. In Ihrer Stellungnahme zu den Beweisanträgen –, die Sache mit [dem Zeugen]: Sie bauen ja in Ihren Beweisantrag ein Argument ein, dass [der Zeuge] hier einer Falschaussage überführt worden sei – ich hoffe, ich zitiere Sie da jetzt zutreffend – im Hinblick darauf, dass er bei unserer Vernehmung hier etwas anderes gesagt hat als bei seiner Vernehmung vor einem Jahr oder wann er hier war. Sie haben da etwas vorgehalten – seinerzeit schon als der [Zeuge] hier saß – aus einem uns nicht vorliegenden stenografierten Protokoll der damaligen Vernehmung.

Bekanntlich gibt es in deutschen Gerichtsprozessen (noch) keine akustischen Aufzeichnungen der Verhandlungen. Die Verteidigung hat hier als ihre Gehilfen Stenographen hinzugezogen, die die Verhandlung wörtlich protokollierten. Für den Angeklagten nicht ganz preiswert und für den nicht besonders begüterten Angeklagten unerschwinglich.

Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – (DokHVG)

Bereits im Juni 2021 hat eine hochkarätige Expertenkommission ihren Bericht zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung vorgelegt. Darin regt sie eine Tonaufzeichnung an, die mittels Transkriptionssoftware verschriftlicht werden soll.

Im November 2022 wurde der Referentenentwurf zum Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – (DokHVG) veröffentlicht. Danach soll eine digitale Inhaltsdokumentation der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten bis zum 01.01.2030 geschaffen werden. Zunächst bei den OLGs in Staatsschutzsachen.

Aufgrund der erheblichen Kosten rechne ich mit erbittertem Widerstand der Länder.

Bisher ist die Abstimmung der Ministerien nicht abgeschlossen. Ein Gesetzentwurf liegt noch nicht vor. Das „Cum-Ex“-Verfahren zeigt exemplarisch für viele andere Verfahren, daß es Zeit für die Gesetzesänderung ist.

Als Verteidiger kennen wir nicht nur das geltende Strafprozeßrecht, sondern beschäftigen uns auch mit den Gesetzesvorhaben.