Ins Stammbuch geschrieben
Die Bundesrepublik Deutschland mußte sich unschöne Dinge von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sagen lassen. Um den Kindermörder Gäfgen wird in mannigfaltiger Weise deutsche Rechtsgeschichte geschrieben.
Ferdinand von Schirach schrieb einen sehr lesenswerten Artikel im Spiegel und meint:
Gäfgen ist der Mörder, aber am Ende sind alle schuldig geworden. Die Gerichte, weil sie Daschner zu milde bestraften, die Verwaltung, weil sie ihn beförderte. Daschner, weil er sich gegen die Grundprinzipien unseres Staates entschied und die Würde eines Menschen verletzte. Und der Verteidiger, weil er nie ein echter Gegenspieler des Gerichts war.
Quelle: SPIEGEL 23/2010, Die Würde der Fürchterlichsten
Der ehemalige stellvertretende Polizeipräsident in Frankfurt Daschner fürchtete um das Leben des Opfers und entschloss sich, durch den ihm untergebenen Kriminalhauptkommissar Ennigkeit die Anwendung unmittelbaren Zwanges anzudrohen. Nach Aussagen von Magnus Gäfgen habe der Beamte mit „Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt habe“ gedroht. Ein polizeilicher „Spezialist“ für derartige Maßnahmen sei bereits mit dem Hubschrauber unterwegs zu Gäfgen, um die Drohung wahr zu machen. Dies ist Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat, § 375 StGB und das Regelbeispiel eines besonders schweren Falles der Nötigung im Amt, § 240 III StGB, die mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bedroht ist.
Das Gericht stellte am 20.12.2004 neben dem Schuldspruch fest, dass eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 120 Euro (insgesamt 10.800 Euro) gegen Daschner und von 60 Tagessätzen zu je 60 Euro (insgesamt 3.600 Euro) gegen Ennigkeit tat- und schuldangemessen seien, verwarnte beide und behielt im Sinne einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB die Verurteilung zu den genannten Geldstrafen vor, wobei eine Bewährungszeit von einem Jahr festgesetzt wurde. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung verzichteten auf Rechtsmittel gegen das Urteil, so dass es nach Verkündung rechtskräftig wurde.
Am 19. April 2005 stellte der hessische Innenminister Volker Bouffier das gegen Daschner eingeleitete Disziplinarverfahren ein, ohne disziplinarische Maßnahmen gegen ihn zu verhängen. Daschner übernahm die Leitung des Präsidiums für Technik, Logistik und Verwaltung der hessischen Polizei und wurde am 1. Mai 2008, wegen Erreichens der gesetzlich vorgeschriebenen Altersgrenze, in den Ruhestand versetzt.
Hier finden Sie das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 01.06.2010 in englischer Sprache.
Die Pressemitteilung des Kanzlers des Gerichtshofes bewertet die Vorgänge so:
Er (der Gerichtshof) stellte jedoch fest, dass die der Nötigung im Amt bzw. Verleitung eines Untergebenen zur Nötigung im Amt für schuldig befundenen Polizeibeamten nur zu sehr geringen Geldstrafen auf Bewährung verurteilt worden waren. Die deutschen Gerichte hatten eine Reihe von mildernden Umständen berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass die Beamten in der Absicht handelten, J.s Leben zu retten. Der Gerichtshof erkannte zwar an, dass der vorliegende Fall nicht vergleichbar war mit Beschwerden über brutale Willkürakte von Staatsbeamten. Dennoch erwog er, dass die Bestrafung der Polizeibeamten nicht den notwendigen Abschreckungseffekt hatte, um vergleichbaren Konventionsverletzungen vorzubeugen. Zudem gab die Tatsache, dass einer der Beamten später zum Leiter einer Dienststelle ernannt worden war, Anlass zu grundlegenden Zweifeln, ob die Behörden angemessen auf den Ernst der Lage angesichts einer Verletzung von Artikel 3 reagiert hatten.
Im Hinblick auf eine mögliche Entschädigung für die Verletzung der Konvention nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe zur Einleitung eines Amtshaftungsverfahrens mehr als drei Jahre anhängig und dass in der Sache noch nicht über den geltend gemachten Entschädigungsanspruch entschieden worden war. Dies gab Anlass zu grundlegenden Zweifeln an der Effizienz des Amtshaftungsverfahrens.
Angesichts dieser Überlegungen war der Gerichtshof der Auffassung, dass die deutschen Behörden dem Beschwerdeführer keine ausreichende Abhilfe für seine konventionswidrige Behandlung gewährt hatten.
Quelle: Pressemitteilung Kanzler
v. Schirach bewertet das im o.g. Artikel so:
Die Folgen müssten ganz anders aussehen. Der Polizist, der sich für die Folter entscheidet, muss hart bestraft werden. Keine Verwarnung mit Strafvorbehalt wie bei Daschner, sondern eine mehrjährige Gefängnisstrafe, Entlassung aus dem Dienst, Streichung der Pension. Es wiegt schwer, wenn der Staat selbst und seine Diener gegen die Gesetze verstoßen. Wenn Daschner solche Strafen hätte befürchten müssen, die jetzt auch der Europäische Gerichtshof indirekt verlangt, wäre es eine echte Entscheidung gewesen: Er rettet das Kind und geht selbst unter. Er würde nicht als Verbrecher eingesperrt, sondern als Held. Helden müssen scheitern, es ist ihr Wesen. Sie fallen, auch wenn sie glauben, sie hätten das Richtige getan.
Interessant ist die Frage, ob Gäfgen Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland aus Amtshaftung geltend machen kann. Dafür muß ihm Prozeßkostenhilfe gewährt werden. Eine naheliegende Entscheidung, jede andere Entscheidung verwundert. Gäfgen scheiterte jedoch mit seinen Anträgen vor den Gerichten. Erst das Bundesverfassungsgericht stellte klar, daß ihm Prozeßkostenhilfe zu gewähren sei.
Entscheidung des BVergG v. 19.02.2008
In der Sache ist immer noch nicht entschieden.
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[…] Im Hinblick auf eine mögliche Entschädigung für die Verletzung der Konvention nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe zur Einleitung eines Amtshaftungsverfahrens mehr als drei Jahre anhängig und dass in der Sache noch nicht über den geltend gemachten Entschädigungsanspruch entschieden worden war. Dies gab Anlass zu grundlegenden Zweifeln an der Effizienz des Amtshaftungsverfahrens. Quellennachweis und weitere Einzelheiten in unserem Beitrag: Ins Stammbuch geschrieben […]
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