BGH deckt Schlamperei

Der Kollege Vetter hat auf einen interessanten Beschluss des 7. Senates des BGH aufmerksam gemacht: Eine Frage der Auslegung.

Eine Frage der Auslegung? Nein, eine Frage der Ehre, der juristischen Ehre!

Was war passiert?

Jemand wollte aus einem Urteil vollstrecken, das folgenden Wortlaut hat:

1. Die Beklagte [= Schuldnerin] wird verurteilt, an den Kläger [= Gläubiger] ab 01.12.2009 bis zu seinem Tod eine monatliche Altersrente von jeweils weiteren € 934,19, fällig zum 1. eines jeden Monats, nebst 8 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 25.06.2009 zu bezahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 43.906,93 nebst 8 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 25.06.2009 zu bezahlen.

Das Landgericht ist mit seiner Entscheidung dem Antrag des Klägers gefolgt, hat ihm mithin das zugesprochen, was er (vertreten durch seinen Rechtsanwalt) beantragt hat, wohl jedoch nicht das, was er wollte.

Der Wortlaut der Entscheidung ist eindeutig: 8 % über dem Basiszinssatz; wahrscheinlich ist der jeweilige Basiszinssatz gemeint. Mit anderen Worten: 108% des jeweiligen Basiszinssatzes. Wenn der Basiszinssatz 5% beträgt, also 5,4% Zinsen.

Welche Bedeutung dieser „kleine“ Unterschied macht verdeutlicht die Tabelle des Basiszinssatzes seit dem 01.01.2009:

 

Zeitraum

Basiszins

8 % über Basiszins

8 Prozentpunkte über Basiszins

01.01.2009 -> 30.06.2009 1,62 % 1,75 % 9,62 %
01.07.2009 -> 31.12.2009 0,12 % 0,13 % 8,12 %
01.01.2010 -> 30.06.2010 0,12 % 0,13 % 8,12 %
01.07.2010 -> 31.12.2010 0,12 % 0,13 % 8,12 %
01.01.2011 -> 30.06.2011 0,12 % 0,13 % 8,12 %
01.07.2011 -> 31.12.2011 0,37 % 0,40 % 8,37 %
01.01.2012 -> 30.06.2012 0,12 % 0,13 % 8,12 %
01.07.2012 -> 31.12.2012 0,12 % 0,13 % 8,12 %

 

Rechnet man mit den Zahlen aus dem Beschluß des BGH zur 2. Forderung ergeben sich diese absoluten Werte:

Zeitraum Tage Zinssatz Zinsertrag
25.06.2009 – 30.06.2009 6 1,75 % 12,63 €
01.07.2009 – 30.06.2011 730 0,13 % 114,16 €
01.07.2011 – 31.12.2011 184 0,40 % 88,54 €
01.01.2012 – 31.12.2012 366 0,13 % 57,08 €
Zusammenfassung
25.06.2009 – 31.12.2012 1.286 Zinsen 272,41 €
Ausgangsforderung 43.906,93 €
Gesamtforderung 44.179,34 €

Ca. 270 € Zinsen sind natürlich nichts im Verhältnis zu den „eigentlich“ gewollten Zinsen in Höhe von mehr als 12.000 €:

 

Zeitraum Tage Zinssatz Zinsertrag
25.06.2009 – 30.06.2009 6 9,62 % 69,43 €
01.07.2009 – 31.12.2009 184 8,12 % 1.797,27 €
01.01.2010 – 30.06.2010 181 8,12 % 1.767,97 €
01.07.2010 – 31.12.2010 184 8,12 % 1.797,27 €
01.01.2011 – 30.06.2011 181 8,12 % 1.767,97 €
01.07.2011 – 31.12.2011 184 8,37 % 1.852,61 €
01.01.2012 – 30.06.2012 182 8,12 % 1.772,88 €
01.07.2012 – 31.12.2012 184 8,12 % 1.792,36 €
Zusammenfassung
25.06.2009 – 31.12.2012 1.286 Zinsen 12.617,77 €
Ausgangsforderung 43.906,93 €
Gesamtforderung 56.524,70 €

Wir haben hier nur bis zum Jahresende 2012 gerechnet. Danach wird es durch den negativen Basiszinssatz in Höhe von – 0,13 % noch extremer.

Der BGH hat hier dem Gläubiger mehr als 12.000 € geschenkt. Das freut den Gläubiger und ärgert den Schuldner.

Wie kommt der BGH dazu, dem Kläger mehr zu gewähren, als er beantragt und zugesprochen bekam? Die hohen Herren machen sich nicht die Mühe, das genauer zu begründen. Apodiktisch wird unter Hinweis auf die diesbezügliche Rechtsprechung darauf verwiesen,

Ist der Inhalt des Titels zweifelhaft, hat das Vollstreckungsorgan diesen Inhalt gegebenenfalls durch Auslegung festzustellen.

Das Beschwerdegericht hatte zuvor seine Entscheidung begründet:

das Urteil des Landgerichts sei dem Antrag des Klägers entsprechend klar und eindeutig abgefasst. Gemäß § 308 Abs. 1 ZPO sei das Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt sei.

Ist denn der Inhalt des Titels zweifelhaft? Der BGH behauptet schlicht ohne es zu begründen, daß die Formulierung mehrdeutig sei. Haben die hohen Richter aufgrund ihrer Brillanz die beiden ersten Semester der Juristenausbildung übersprungen? Dort lernt der junge Student die verschiedenen Methoden der Auslegung und begreift, daß der Wortsinn die absolute Grenze der Auslegung ist. Lang, lang ist es bei mir her, daß ich aus dem Standardwerk der Methodenlehre lernte:

Da der Wortsinn die möglichen Auslegungen einer Bestimmung begrenzt, empfiehlt es sich, bei ihm zu beginnen; dadurch wird man alsbald zu dem Bedeutungszusammenhang geführt, in dem diese Bestimmung zu anderen steht.
Quelle: Larenz, Methodenlehre, 343ff

Der BGH wollte dem Schuldner helfen. Das ist nicht löblich; auch dann nicht, wenn man sich die vielleicht dem Prozeß zugrunde liegende menschliche Tragödie vorstellt.

Der BGH wollte helfen und hat dem Recht geschadet! Um zu einer materiell „gerechten“ Entscheidung zu kommen, hat er das formelle Recht gebrochen. Der Nutzen dieser Entscheidung begrenzt sich auf den Einzelfall, der Schaden wird weiter um sich greifen und letztlich zur Willkür richterlicher Entscheidungen führen. Auch das lernt der junge Student in den ersten Semestern:

Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält der Verlockung der Freiheit zur Zügellosigkeit das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen, daß sie sich nicht zerstreue, verlaufe, sie kräftigt sie nach innen, schützt sie nach außen. Feste Formen sind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der Freiheit selber und eine Schutzwehr gegen äußere Angriffe, – sie lassen sich nur brechen, nicht biegen.
Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Band 2, Seite 456

11 Kommentare
  1. @RARitterhoff
    @RARitterhoff sagte:

    LiKo Jede,

    Ihre Herleitung ist natürlich für die Auslegung von Gesetzen (besonders im strafrechtlichen Bereich) zwingend richtig, führt aber hier ein wenig in die Irre.

    Denn hier haben wir es doch mit einem Titel aufgrund eines Parteiantrages zu tun. Der Parteiantrag ist aber gem. §§ 133, 157 BGB nach dem „wirklichen Willen“ auszulegen und nimmt ersichtlich auf die gesetzliche Regelung Bezug, die eben Prozentpunkte über Basiszinssatz und eben nicht Prozente des Basiszinssatzes zuspricht. Prozente des Basiszinssatzes kommen im Gesetz nicht vor, es gibt auch keinen vernünftigen Grund, lediglich diese zu beantragen. Davon wohl Sie selbst auch aus, dass die Partei eigentlich die Prozentpunkte über Basiszinssatz meinte, sonst würden Sie kaum von Schlamperei reden.

    Also liegt eine offensichtliche Unrichtigkeit vor. Damit müssen wir aber auch über die Schlamperei des Gerichts reden, das nicht gem. $ 139 Abs. 2 ZPO auf die offensichtliche Unrichtigkeit des Antrags hinwies.

    Im Ergebnis hat also der BGH völlig zu Recht lediglich der sinnlosen Sophisterei eine Absage erteilt.

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  2. or
    or sagte:

    Lieber RA Ritterhoff,

    das ist mitnichten eine sinnlose Sophisterei. Sondern der Unterschied zwischen RICHTIG und FALSCH. Die Rechnung des BGH bekäme in einer Mathematikarbeit eine 6. Nun kann man natürlich sagen, dass Leben sei keine Mathematik, Mathematik ist sowieso doof, ich hasse meinen Mathelehrer immer noch etc.pp. Das ändert nichts an der Tatsache, dass das BGH-Urteil ungefähr so sinnfrei ist als hätte der BGH Pi per Urteil auf 3 oder 4 festgelegt. Als Jurist sind sie es vielleicht anders gewöhnt, aber Mathematik ist der Bereich, wo auch „nicht ganz richtig“ immer noch „falsch“ ist.

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  3. Subjektive Ansätze
    Subjektive Ansätze sagte:

    Muss ich mir merken: 8 Prozent sind 8 Prozentpunkte.

    Juristen verstehen das!

    Besonders schön finde ich auch den hier:

    „Nach einer neuen Entscheidung des BGH (Urteil vom 13. März 2013, Az.: VIII ZR 186/12) wird bei einem Kaufvertrag zwischen Privatleuten die Gewährleistung durch die Klausel ”Für das Fahrzeug besteht keine Garantie” wirksam ausgeschlossen.“

    Quelle: http://www.internet-law.de/2013/03/gewahrleistungsausschluss-durch-formulierung-ohne-garantie.html

    Eine Auffassung, die ich teile, findet sich in den dortigen Kommentaren:

    „Künftig muß man sich bei eindeutig formulierten Verträgen überlegen, was denn die Volljuristen am BGH meinen könnten, was man gemeint haben könnte.“

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  4. Kai
    Kai sagte:

    Mir fallen zu dieser Entscheidung zwei Sachen ein:

    1. Vertreten Sie, dass bei Klageanträgen ausschließlich eine Wortlautauslegung erfolgt?
    Das wäre m.E. ein Novum.

    2. Warum hat hier das Landgericht nicht an einen richterlichen Hinweis gedacht, bevor tenoriert wurde?

    Antworten
  5. Rechtsanwalt Grehsin
    Rechtsanwalt Grehsin sagte:

    Als Auslegungshilfe für die Entscheidungsformel eines Urteils mögen allenfalls Tatbestand und Entscheidungsgründe herhalten, der Beschluss des VII. Zivilsenates geht darüber hinaus.

    Dadurch ist erstmals in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte mit höchstrichterlichem Segen die Exekutive befugt, ihrem Auftrag einen „eigenen Sinn“ zu geben.

    Die Tür ist einen Spalt breit offen, in nur wenigen Jahren wird sie es sperrangelweit sein.

    @Kollege Jede: Ihr Zitat geht aber noch weiter :-) (http://www.grehsin.de/blog/fundstuecke-8)

    Antworten
  6. RA Jede
    RA Jede sagte:

    @ Anno Nüm:
    Ich kann den Sinn Ihrer Frage nicht nachvollziehen. Selbst die von Ihnen vermutete Motivation für den Beitrag würde den Wert der Argumentation nicht verändern. Aber: Nein, ich habe keine der Parteien vertreten.

    Antworten
  7. RA Jede
    RA Jede sagte:

    @Kai:

    Wieso soll eine Auslegung am Wortsinn ein Novum sein? Ich denke, meine Auffassung ist im Beitrag ausreichend dargelegt.

    Hier sind mehrere Fehler begangen worden. Der Klageantrag ist schlampig. Der Kläger hat etwas anderes erklärt, als er erklären wollte.

    Ob das Gericht auf eine „Nachbesserung“ des Antrages hätte hinweisen sollen, kann man wohl diskutieren. Hätte ich den Beklagten vertreten, hätte ich auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichtes wohl ein Befangenheitsgesuch gestellt.

    Wohlgemerkt, es war ein Anwaltsprozeß, nicht ein Verfahren vor dem Amtsgericht ohne Vertretungszwang. Und die BGB-Vorschriften passen hier nicht.

    Antworten
  8. Steven
    Steven sagte:

    Hallo,

    der BGH hat hier keinen Fehler gemacht. Anträge sind sehr wohl auszulegen (muss ich des Öfteren auch leider in der Praxis machen).

    Hier exemplarisch (BGH: Urteil vom 10.10.2012 – IV ZR 12/11):

    „Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Wortlaut des Tarifvertrages. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Dabei ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien über den reinen Wortlaut hinaus nur zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat.“

    Das heißt, dass der reine Wortlaut nicht immer die Grenze bildet, sondern vielmehr gefragt werden muss, wass der Erklärende denn eigentlich wollte und wie der Empfänger dies verstehen musste.

    Die anderen Argumente hat bereits @RARitterhoff vorgetragen. Sie sind zutreffend. Und ein Befangenheitsantrag würde, wenn ich über diesen Entscheiden müsste, ebenfalls nicht durchgehen. weil der Richter nur seiner gesetzlichen Pflicht aus § 139 ZPO nachkommt, wenn er eine Partei darauf hinweist, dass ihr Antrag korrekturbedürftig ist.

    Beste Grüße aus Berlin

    Antworten
  9. RA Jede
    RA Jede sagte:

    @ Steven:

    Ihr Exempel paßt nicht. Natürlich ist der normative Teil eines Tarifvertrages auszulegen. Und auf den wirklichen Willen ist nur unter besonderen Umständen abzustellen.

    § 139 ZPO paßt perfekt. Volltreffer! In jeder Kommentierung werden Sie den Hinweis finden, daß beispielsweise Hinweise auf Änderung oder Erweiterung des Prozeßzieles unzulässig sind. Im Zöller wird das Beispiel des fehlenden Zinsantrages oder eine andere Verrechnung von Teilzahlungen als unzulässig aufgeführt.

    Die Höhe der Zinsen ist nicht von Amts wegen i.S.d. § 139 III ZPO zu berücksichtigen. Der Zinsantrag (vom Anwalt formuliert) fordert unzweideutig weniger als die gesetzliche Regelung ermöglicht. Deswegen fehlt dem Antrag nicht das Merkmal der „Sachdienlichkeit“! Der Antrag ist nicht korrekturbedürftig, da zulässig. Wollen Sie einem bestimmten und nicht in das Ermessen des Gerichtes gestellten Schadensersatzbetrag auch hochsetzen weil der Kläger sicherlich gerne mehr hätte als er beantragt hat wenn er nur wüßte, daß Sie ihm mehr gäben?

    Das ist sein gutes Recht und der Richter hat es hinzunehmen.

    Ich befürchte ein wenig, daß SIe auch auf die Einrede der Verjährung hinweisen würden? Ist doch klar, der Beklagte will nicht zahlen, das Erfordernis der Einrede ist doch boße Förmelei, purer Sophismus?

    Falls Sie die Frage verneinen: Mit welcher Begründung? An welcher Stelle lassen Sie den Grundsatz der Parteiautonomie noch gelten? Wohlgemerkt: Im Anwaltsprozeß!

    Der BGH hat falsch entschieden. Dem Kläger wäre mit dem Schadensersatzanspruch gegen den Rechtsanwalt geholfen.

    Antworten

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