[toc]Der Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 29.06.2016 – VIII ZR 191/15) hatte mit einem „Langsteher“ zu tun. Als Langsteher verstehen wir im Folgenden ein Fahrzeug, dass zwischen Produktion und erster Zulassung ganz lange auf Halde gestanden hat. Das Besondere bei der neuen Entscheidung ist, dass der Bundesgerichtshof das Langstehen im Hinblick auf das Vorliegen eines Sachmangels bei einen späteren Verkauf durch den ursprünglichen Erstbesitzer als Gebrauchtwagen zu prüfen hatte.
Die Entscheidung soll jetzt aber nicht im Vordergrund stehen – Spoiler: Es stellt bei einziger Angabe der Erstzulassung keinen Sachmangel dar.
Im Folgenden schauen wir uns lieber die zugrunde liegenden wertbildenden Begrifflichkeiten an:
Warum gibt es „Langsteher“
Vertragshändler haben einen Vertrag mit dem Hersteller. Dieser regelt, dass der Vertragshändler eine bestimmte Anzahl von Neuwagen abnehmen muss. Es ist hierbei unbeachtlich, ob der Vertragshändler eine Kunden für den Wagen hat. Er muss die Fahrzeuge abnehmen. In den meisten Fällen kann der Vertragshändler die verschiedenen, in bestimmten Stückzahlen abzunehmenden Modelle, selbst konfigurieren. D.h. er bestimmt die Motorisierung, Ausstattung, Stoffe/Leder und die Innen- und Außenfarbe.
Das kann aber auch schief gehen und der Vertragshändler trifft z.B. bei Volumenmodellen (je nach Hersteller z.B. Klein- und/oder Kompaktwagen, Mittelklasse usw.) nicht den Geschmack seiner Kunden, die einen „vorrätigen“ Neuwagen kaufen möchten. Die „vorrätigen“ Neuwagen bieten dem Kunden den Vorteil, dass er natürlich nicht die Bestell- und Lieferzeiten des Herstellers abzuwarten braucht.
So kann es passieren, dass die tolle grüne Mittelklasselimosiniene mit der knallroten 80er Jahre Velourinnenausstattung, ohne Automatik, Navi und dem größten Motor (nur ein Beispiel) die nächsten Monate auf dem Lagerplatz des Vertragshändlers rumsteht.
Nach 12 Monaten sagt dann der Bundesgerichtshof, dass es kein Neuwagen mehr ist. Was nun?
Solche „Langsteher“ mag dann kein Kunde haben. Da man für diese Fahrzeuge eh hohe Rabatte gewähren muss, werden sie dann auf den Händler für einige Tage zugelassen. Manche Vertragshändlerverträge sehen dann Zuschüsse vom Hersteller vor, um entsprechend höhere Rabatte ohne größere Verluste anbieten zu können. Oder man schiebt solche Fahrzeuge im Bündel günstig an z.B. Mietwagenfirmen weiter.
Wie erkenne ich den Langsteher?
Baujahr
Das Baujahr beschreibt den tatsächlichen Zeitpunkt der Herstellung. Es steht nirgends am Fahrzeug, sodass nur der Hersteller und ggf. der Vertragshändler mit Hilfe der Fahrgestellnummer genaue Angaben machen kann.
Modelljahr
Die Produktion von Fahrzeugen unterliegt ständigen (Verschlimm-)Besserungen. Stellt sich im Produktionszeitraum heraus, dass z.B. verwendete Bauteile dauernde Reklamationen hervorrufen, werden sie bei der Produktion durch andere z.T. Verbesserte ersetzt. Dies geschieht vornehmlich nach dem Wechsel des Modelljahres.
Wann ein Modelljahr beginnt und endet, bestimmt nicht der Kalender sondern der Hersteller. Bei Audi oder VW wechselt das Modelljahr in der Regel nach den Werksferien. D.h. ab August/ September 2016 beginnt das Modelljahr 2017.
Erstzulassung
Die Erstzulassung sagt über den Herstellungszeitpunkt nichts aus. Sie gibt nur an, wann eine Zulassungsbehörde erstmals die Zulassungsbescheinigung Teil II (Kfz-Brief) in die Hände bekam, das Fahrzeug erstmals zum öffentlichen Verkehr zugelassen wurde und erstmals eine Zulassungsbescheinigung Teil I (Fahrzeugschein) ausgefertigt wurde.
Wie erkenne ich nun das Baujahr?
Das ist gar nicht so einfach. In Deutschland ist es z.B. nicht vorgeschrieben, dass der Herstellungszeitpunkt in der Fahrzeugidentifikationsnummer codiert ist.
Der Vertragshändler weisd das aber und wird auf Nachfrage ggf. die Fahrgestellnummer prüfen (durch die EDV in einigen Sekunden) oder in den Unterlagen zur Fahrzeugbestellung (beim Neuwagenkauf) nachschauen und zumindest das Modelljahr mitteilen können.
Einfacher haben es z.B. Käufer bei VW/Audi Modellen. Hier ist das Modelljahr in der Fahrgestellnummer codiert. Die 10. Stelle gibt hierüber Aufschluß:
A = 1980 oder 2010
B = 1981 oder 2011
C = 1982 oder 2012
D = 1983 oder 2013
E = 1984 oder 2014
F = 1985 oder 2015
G = 1986 oder 2016
H = 1987 oder 2017
J = 1988
K = 1989
L = 1990
M = 1991
N = 1992
P = 1993
R = 1994
S = 1995
T = 1996
V = 1997
W = 1998
X = 1999
Y = 2000
1 = 2001 oder 1971
2 = 2002 oder 1972
3 = 2003 oder 1973
4 = 2004 oder 1974
5 = 2005 oder 1975 oder 1965
6 = 2006 oder 1976 oder 1966
7 = 2007 oder 1977 oder 1967
8 = 2008 oder 1978 oder 1968
9 = 2009 oder 1979 oder 1969
0 = 1970
Hierbei sind dann wieder die Eigenheiten des Begriffs „Modelljahr“ (siehe oben) zu berücksichtigen.
Tipp: Seitenscheibe
Schauen Sie doch mal auf die im Fahrzeug verbauten Schreiben. Auf jeder Scheibe ist eine Ziffer angebracht (0-9). Die sagt Ihnen, wann die Scheibe hergestellt wurde. Die Ziffer ist immer die letzte Ziffer des Herstellungsjahres. Z.B. steht die 6 für die Jahre 1996, 2006, 2016.
Bei Gebrauchtwagen schauen Sie sich aber die Seitenscheiben an, da Frontscheiben ab und an ausgetauscht werden müssen.
Dies ist dann ein sichtbares Indiz für ein bestimmtes Produktionsjahr des Autos. Natürlich muss man ein bisschen mitdenken. Bei einer Erstzulassung im Februar 2016 ist dann natürlich eine 5 in der Scheibe für 2015 in Ordnung. Die Teile müssen ja erstmal zur Produktionsstätte des Herstellers. Bei dem neusten Modell des Herstellers steht dann die 6 auch nicht für 1996.
Das Bundesverfassungsgericht musste mit seinem stattgebenden Kammerbeschluss vom 14. Juli 2016 – 2 BvR 2748/14 – die verfassungswidrigen Ansinnen des Amtsgericht Reutlingen und des Landgerichts Tübingen in einem Verkehrsordnungswidrigkeiten-verfahren kitten.
Was war passiert?
Ein Motorradfahrer war außerhalb geschlossener Ortschaften mit 30 km/h zuviel geblitzt worden. Gegen den Halter des Motorrades wurde dann ein Bußgeldbescheid erlassen. Das Bußgeld betrug 80,00 €.
Gegen den Bescheid legte der betroffene Halter des Motorrades Einspruch ein. Es kam zu einer Verhandlung am Amtsgericht Reutlingen.
Da Motorradfahrer einen Helm tragen, konnte der Fahrer nicht ohne weiteres ermittelt werden. Der betroffene Halter verteidigte sich -zulässig- durch Schweigen.
Das Amtsgericht Reutlingen hatte jetzt die Möglichkeit durch die Beauftragung eines anthropologischen Gutachtens festzustellen, ob die Gesichtszüge unter dem Helm des zu schnellen Motorradfahrers zum betroffenen Halter passen könnten. Da das Gericht von Amts wegen den Sachverhalt aufzuklären hatte, wäre dies das Mitteil der Wahl gewesen.
Das Amtsgericht Reutlingen hatte aber eine „viel bessere Idee“:
Wohnungsdurchsuchung, um die Bekleidung, die Armbanduhr und den Helm, die auf dem Blitzerfoto abgelichtet wurden, zu beschlagnahmen.
„Noch am 28. Februar 2013 ordnete das Amtsgericht Reutlingen die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers zum Zwecke des Auffindens und der Beschlagnahme der vom Fahrer des Kraftrades getragenen Motorradbekleidung (Helm, Oberbekleidung, Handschuhe, Schuhe) sowie einer auf dem Tatfoto ebenfalls erkennbaren Armbanduhr an. Das Amtsgericht führte neben dem Tatvorwurf aus, dass es sich um eine beträchtliche Geschwindigkeitsüberschreitung handele. Bei der Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachts sei die Durchsuchung und darüber hinaus, wegen des gerichtlichen Bußgeldverfahrens (u.a. Vorbereitung eines anthropologischen Identitätsgutachtens oder eines Augenscheins durch das Gericht), auch die Beschlagnahme erforderlich und verhältnismäßig. Der Betroffene besitze eine Fahrerlaubnis für Krafträder und sei Halter des Fahrzeugs.“
„Er räume die Tat nicht ein.“
Das geht ja im Rahmen der Unschuldsvermutung nun wirklich nicht!
Gesagt getan, die Wohnung wurde durchsucht. Lustigerweise stellte sich anlässlich der Durchsuchung heraus, dass der Betroffene Kriminalpolizist ist. Die durchsuchenden Beamten fanden aber nicht die auf dem Blitzerbild abgebildete Bekleidung oder den Helm sondern nur Bekleidung und Helme, die nicht dem Bild entsprochen haben. Dies vermerkten sie sodann.
Da war das Amtsgericht Reutlingen aber „not amused“. Wie konnten sich denn nur die durchsuchenden Beamten anmaßen, die aufgefundene Bekleidung und Helme, die nicht auf dem Bild waren, nicht zu beschlagnahmen oder wenigsten Fotos zu machen.
Also zweite Runde mit einer anderen Polizeidienststelle:
„Mit Beschluss vom 8. März 2013 ordnete das Amtsgericht erneut die Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen und die Beschlagnahme der genannten Gegenstände an. In seiner Begründung führte es aus, dass das Polizeirevier Metzingen den Beschluss vom 28. Februar 2013 nicht vollständig vollzogen habe. Die aufgefundenen Gegenstände, insbesondere die beiden Motorradhelme, seien nicht beschlagnahmt worden. Das Gericht sei vor dieser Abweichung vom Beschluss nicht informiert worden. Die Motorradhelme und die Motorradbekleidung seien auch nicht fotografiert worden. Zu der im Beschlusstenor aufgeführten Armbanduhr gebe es keine Stellungnahme. Es fehle an einem förmlichen Durchsuchungsprotokoll. Das Gericht habe erst auf Nachfrage nach dem Verbleib der Durchsuchungsergebnisse am 6. März 2013 erfahren, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Kriminalbeamten der Landespolizeidirektion Tübingen handele. Dies sei dem Polizeirevier Metzingen bekannt gewesen. Durch die Vorgehensweise des Polizeireviers Metzingen sei die Überprüfung des Tatvorwurfs zwar erheblich erschwert und der Betroffene nunmehr gewarnt worden. Die Aufklärung sei jedoch nicht unmöglich. In der Hauptverhandlung könnten die mit der Vollziehung betrauten Polizeibeamten vernommen werden. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sei die Beurteilung, ob Gegenstände den Betroffenen ent- oder belasteten, grundsätzlich nicht Aufgabe der Ermittlungsbeamten, sondern des erkennenden Gerichts. Die beschlagnahmten Gegenstände seien dem Gericht daher vorzulegen und in der Hauptverhandlung in Augenschein zu nehmen.“
Wenn man sowas offensichtlich unverhältnismäßiges schon macht, hätte man natürlich auch den ersten Beschluss gleich vernünftig formulieren können. Vll. war es auch ungewohnt, da im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft gleich einen Entwurf des Durchsuchungsbeschlusses zum Unterschreiben beim Gericht vorlegt.
Ergebnis:
„Der neuerliche Durchsuchungsbeschluss wurde am 12. März 2013 vollzogen. Ausweislich des Durchsuchungsprotokolls des nunmehr beauftragten Polizeireviers Reutlingen habe sich die Durchsuchung auf sämtliche Räume erstreckt. Lediglich im Untergeschoss seien Helme und Motorradbekleidung – jedoch nicht in der Größe des Beschwerdeführers, sondern deutlich kleiner – aufgefunden worden. Von sämtlichen Gegenständen und auch der Armbanduhr des Beschwerdeführers seien Lichtbilder gefertigt worden. Eine Beschlagnahme sei nicht erfolgt.“
Gegen beide Durchsuchungsbeschlüsse hat der Betroffene Beschwerde eingelegt. War dem Landgericht Tübingen aber auch egal.
Zwischenzeitlich wurde ja ein anthropologischen Gutachten beauftragt, dass den Betroffenen mit 95 bis 99% Sicherheit als Fahrer identifiziert hatte.
Das Landgericht Tübingen vertrat dann u.a. folgende Ansinnen:
„Gegen den Betroffenen habe der Verdacht einer erheblichen Ordnungswidrigkeit bestanden, zu dem die Durchsuchungsmaßnahmen – auch unter Berücksichtigung des Gewichts des betroffenen Grundrechts aus Art. 13 GG – nicht außer Verhältnis gestanden hätten.“
„Das Amtsgericht habe auch nicht etwa vorrangig ein anthropologisches Sachverständigengutachten in Auftrag geben und dessen Ergebnis abwarten müssen. Ein derart gestuftes Vorgehen sei schon angesichts der kurzen Verjährungsfristen im Ordnungswidrigkeitenrecht nicht geboten.“
(Hervorhebungen durch Blogger)
Echt jetzt? Sind die sinnvollen Textbausteine ausgegangen?
Das Bundesverfassungsgericht hat es aber gerichtet. Es vertrat nämlich die folgende Auffassung:
„Das Gewicht der Ordnungswidrigkeit sowie die auf Grund der guten Qualität der vorhandenen Beweismittelfotos erfolgversprechende Möglichkeit einer Identitätsfeststellung durch Einholung eines anthropologischen Gutachtens sprachen im vorliegenden Fall jedoch gegen den mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen erheblichen Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Zwar handelt es sich bei der vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit nicht um eine Bagatelle (vgl. dazu z.B. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. September 2006 – 2 BvR 1141/05 -, juris, Rn. 17), aber auch nicht – wie von den Fachgerichten angenommen – um eine „beträchtliche“ Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Geldbuße nach Nr. 11.3.5 des zum Tatzeitpunkt gültigen Bußgeldkatalogs in Höhe von 80 € befand sich vielmehr am unteren Rand der Geschwindigkeitsüberschreitungen mit Krafträdern, die überhaupt zu einer Eintragung im Verkehrszentralregister führten. Ein Fahrverbot war im Regelfall bei erstmaliger Begehung nicht vorgesehen (zur Relevanz eines drohenden Fahrverbots vgl. z.B. LG Freiburg, Beschluss vom 3. Februar 2014 – 3 Qs 9/14 -, SVR 2014, S. 275, juris, Rn. 8).
Es waren auch keine erschwerenden Umstände bei der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Tat erkennbar. Die Geschwindigkeitsüberschreitung trug sich außerhalb geschlossener Ortschaften zu und wies somit nicht die gleiche abstrakte Gefährlichkeit auf wie eine Geschwindigkeitsüberschreitung in gleicher Höhe innerhalb einer geschlossenen Ortschaft (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. November 2005 – 2 BvR 1307/05 -). Gegen die Durchsuchungsanordnungen ist zudem anzuführen, dass bei dem Beschwerdeführer keine Voreintragungen im Verkehrszentralregister vorlagen. Weiter war mit der Wohnung die Privatsphäre des Beschwerdeführers betroffen und nicht etwa lediglich nicht besonders privilegierte Geschäftsräumlichkeiten (vgl. z.B. LG Mühlhausen, a.a.O., juris, Rn. 23).
Insbesondere aber haben Amtsgericht und Landgericht verkannt, dass im vorliegenden Einzelfall wegen der guten Qualität der Beweismittelfotos die Einholung eines anthropologischen Gutachtens nahe lag und jedenfalls die sofortige, noch dazu mehrfache Anordnung der Wohnungsdurchsuchung deshalb zurückzustehen hatte (vgl. dazu – allerdings bereits im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit der Maßnahme – LG Zweibrücken, Beschluss vom 22. Dezember 1998 – 1 Qs 1168/98 -, NStZ-RR 1999, S. 339). Denn bei dem – vom Amtsgericht auch eingeholten – Gutachten nach Bildern handelte es sich um ein erheblich milderes Mittel als es die Durchsuchung darstellt. Insoweit hätte das Amtsgericht die Tauglichkeit der Überwachungsbilder für ein Gutachten zunächst mit dem Sachverständigen abklären und gegebenenfalls die Erstellung des Gutachtens abwarten müssen (zu den Anforderungen an ein anthropologisches Identitätsgutachten, bei welchem es sich nicht um ein standardisiertes Verfahren handelt, vgl. z.B. BGH, Urteil vom 15. Februar 2005 – 1 StR 91/04 -, NStZ 2005, S. 458 ).
Dem können nicht – wie das Landgericht meint – die „regelmäßig kurzen Verjährungsfristen“ im Ordnungswidrigkeitenrecht entgegengehalten werden. Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 26 Abs. 3 StVG bei einer Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24 StVG ab Erlass eines Bußgeldbescheides sechs Monate. Diese sechsmonatige Verjährungsfrist wird allerdings durch jede Anberaumung einer Hauptverhandlung (§ 33 Abs. 1 Nr. 11 OWiG) und auch jede Beauftragung eines Sachverständigen durch die Verfolgungsbehörde oder den Richter, wenn der Betroffene vernommen oder ihm die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben worden ist (§ 33 Abs. 1 Nr. 3 OWiG), unterbrochen. Die absolute Verjährungsfrist beträgt dann zwei Jahre nach der Tat (§ 33 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 31 Abs. 3 OWiG).
Es war dem Gericht zuzumuten, innerhalb der nach Beauftragung des Sachverständigen neu anlaufenden sechsmonatigen Verjährungsfrist auf die fristgerechte Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Dass die Durchsuchung nach der Motorradbekleidung und der Armbanduhr des Betroffenen möglicherweise noch wirksamer oder jedenfalls zusätzlich notwendig sein konnte, kann die Angemessenheit der Maßnahme – angesichts des geringeren Gewichts der vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften ohne Regelfahrverbot und unter Berücksichtigung der fehlenden Voreintragungen für den Betroffenen im Verkehrszentralregister – nicht begründen. Die Gewinnung aller bestmöglichen Beweismittel mittels einer Wohnungsdurchsuchung war in dieser Konstellation im Hinblick auf das Gewicht des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht verhältnismäßig.“
Ich kann mir kaum vorstellen, wie man solche „Handlungen“ eines Strafgerichtes seinem Mandanten erklären soll. Von der Entscheidung des Beschwerdegerichtes ganz zu schweigen.
Für das Ausgangsverfahren vergebe ich das „Prädikat“:
Mit dem Kopf voran aus dem Elfenbeinturm gefallen!
Sechs minus, Endstation Registergericht.
PS: Der Kollege Burhoff war beim Bloggen der Entscheidung schneller als ich; musste leider noch arbeiten :)
Spaß beiseite: Beim Kollegen findet man weitere Nachweise, dass sowas im Bezirk des LG Tübingens offensichtlich an der Tagesordnung ist. Lesenswert.
Ich hoffe, dass das Bundesverfassungsgericht jetzt einen Schlussstrich gezogen hat.
https://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gif00Andreas Jedehttps://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gifAndreas Jede2016-08-09 16:29:122017-06-16 14:02:07BVerfG watscht ab: zwei (!) Wohnungsdurchsuchung wegen Geschwindigkeitsüberschreitung
Das Bundesverfassungsgericht musste ‚mal wieder eine völlig abstruse Entscheidung aufheben. Die Entscheidung konnten die Rotberobten werfen, das Amtsgerichtes Bretten liegt nur 23 km von Karlsruhe entfernt.
Die Entscheidung beruht auf einem Verkehrsunfall:
Ein minderjähriger Rollstuhlfahrer überquerte auf dem Weg zur Schule – ordnungsgemäß – einen Zebrastreifen, wurde von einem Auto angefahren, fiel aus dem Rollstuhl und verletzte sich.
Die regulierende Haftpflichtversicherung war der Meinung, dass ihn eine Mitschuld (1/3) treffe.
Und jetzt kommt`s: Er hat sich nicht angeschnallt!
Hierzu muss noch erwähnt werden, dass der Elektrorollstuhl tatsächlich einen Gurt hat. Der ist aber dafür bestimmt, dass sich der Rollstuhlfahrer beim Autofahren ordnungsgemäß sichern kann. Der Rollstuhl wird nämlich in einem Fahrzeug separat gesichert und der Gurt dient zum Anschnallen während der Fahrt.
Der gesunde Menschenverstand sagt einenm sofort, dass dieser Vorhalt bei einem Fußgänger dem Vorwurf entsprechen würde, er habe bei einem Unfall keinen Helm getragen.
Liebe Versicherer, dass ist ein Beispiel für Dummheit! Nicht, dass ein Versicherer jetzt auf die Idee kommt, die Helmpflicht für Fußgänger einzuwenden.
Wegen dieses Einwands der Haftpflichtversicherung wandte sich der Geschädigte an das Amtsgericht Bretten. Leider befand sich der gesunde Menschenverstand bei der Entscheidung des Gerichtes verschlossen im Gurkenglas im Regal, so dass das Ansinnen der Versicherung bestätigt wurde.
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde gegen das – nicht berufungsfähige – Urteil.
Das Bundesverfassungsgericht hob auf Grundlage des Art. 3 GG (Gleichheitssatz) das Urteil des Amtsgerichts Bretten auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung unter Beachtung des gesundes Menschenverstandes seiner Entscheidung an das Amtsgericht zurück.
Die lesenswerte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 10. Juni 2016 – 1 BvR 742/16 –) hier abgerufen werden.
https://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gif00Andreas Jedehttps://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gifAndreas Jede2016-07-19 09:00:292017-06-16 14:02:15Bundesverfassungsgericht watscht dreiste Kfz-Versicherung und Amtsrichter ohne Augenmaß ab
der Käufer den Kaufvertrag über einen „Stinkediesel“ unter Umständen wegen arglistiger Täuschung anfechten kann und
dass die Softwaremanipulation einen erheblichen Mangel darstellt.
Schauen wir uns diese beiden interessantesten Punkte der Entscheidung genauer an:
Warum konnte der Käufer im vorliegenden Fall den Kaufvertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten?
Der Verkäufer des Fahrzeugs war ein Autohaus an dem der Mutterkonzern (VW) des Fahrzeughersteller (Seat) beteiligt ist (der Mutterkonzern ist Gesellschafter des Komplementärs). Voraussetzung einer arglistige Täuschung ist die Kenntnis des Verkäufer über die „Schummelsoftware“ bei Vertragsschluss. Die Kenntnis wurde dann dem Verkäufer vom Landgericht zugerechnet, da der Gesellschafter des Komplementärs ja selbst Kenntnis von der Software hatte.
Das klappt aber nicht bei allen Verkäufern dieser Fahrzeuge. Ist das Autohaus ein „echter“ Vertragshändler, an dem der Hersteller weder direkt (Werksniederlassung) noch indirekt, z.B. als Gesellschafter, beteiligt ist, so kann ihn die Täuschung des Herstellers nicht zugerechnet werden, sodass eine Anfechtung nicht möglich ist.
Warum stellt die „Schummelsoftware“ jetzt doch einen erheblichen Mangel dar?
Das Landgericht München hat klar gestellt, dass Gerichte Einzelfallentscheidungen treffen, sodass sie nicht an die an Entscheidungen anderer Gerichte gebunden sind.
Das Landgericht begründet seine Entscheidung zur Erheblichkeit des Mangels wie folgt:
Die Erheblichkeitsprufung nach § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB erfordert eine umfassende Interessenabwägung. Zu berücksichtigen sind vor allem der für die Mangelbeseitigung erforderliche Aufwand, aber auch die Schwere des Verschuldens des Schuldners, wobei bei Arglist eine unerhebliche Pflichtverletzung in der Regel zu verneinen ist, Der Verstoß gegen eine Beschaffenheitsvereinbarung indiziert die Erheblichkeit (Palandt/Gruneberg, 74. Auflage 2015, § 323 Rdnr. 32). Nach diesen Grundsätzen, die sich das Gericht vollumfänglich zu eigen macht, liegt lm streitgegenständlichen Fall kein unerheblicher Mangel lm Sinne von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB vor.
Danach ist der Aufwand der Mangelbeseitigung nicht allein maßgeblich. Nach der freien Überzeugung des Gerichts ist aber bereits der Aufwand vorliegend auch bei Unterstellung des Beklagtenvortrages als richtig nicht unerheblich. Zwar trägt die Beklagte vor, die Durchführung der Mangelbeseitigung werde nur ca. 1 Stunde dauern und weniger als 100,00 € kosten. Bei der Frage des Aufwandes kann aber die eigentliche Durchführung nicht isoliert betrachtet werden, Für die technische Vorbereitung der beabsichtigten Mangelbeseitigung ist vorliegend aber nach dem Beklagtenvortrag ein Vorlauf von fast einem Jahr erforderlich. Erst dann soll der Mangel innerhalb einer knappen Stunde, behoben werden können. Es handelt sich daher offensichtlich nicht um eine einfache technische Maßnahme, die kurzfristig und ohne weitere Vorbereitungen hätte vorgenommen werden können.
Hinzu kommt, dass die Mangelbeseitigung hier nicht tm Belieben der Beklagten stand. Vielmehr musste der Hersteller nach dem Beklagtenvortrag hierfür zunächst die Genehmigung des Kraftfahrtbundesamtes einholen. Eine Mangelbeseitigungsmaßnahme, die der vorherigen behördlichen Prüfung und Genehmigung bedarf‘, ist aber ebenfalls nicht als unerheblich anzusehen.
Zudem haben die Parteien vorliegend eine Beschaffenheitsvereinbarung über den Schadstoffausstoß gemäß Herstellerangaben getroffen, der von der Beklagten ausdrücklich zugesichert wurde. Wie bereits ausgeführt, indiziert ein solcher Verstoß gegen eine Beschaffenheitsvereinbarung bereits für sich genommen die Erheblichkeit des Mangels im Sinne von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB. Die Beschaffenheitsvereinbarung hat nach der gesetzgeberischen Wertung gerade besonderes Gewicht. Zudem steht es dem Verkäufer frei, ob und in welchem Umfang er bestimmte Eigenschaften zum Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung oder Zusicherung macht und damit eine besondere Einstandspflicht übernimmt. Insofern besteht auch ein gewisser Widerspruch, wenn die Beklagte einerseits den geringen Schadstoffausstoß des streitgegenständlichen Fahrzeuges besonders hervorhebt und anpreist, andererseits aber Abweichungen davon als unbeachtlich bezeichnet.
Hinzu kommt, dass hinsichtlich des Mangels eine der Beklagten zuzurechnende arglistige Täuschung vorliegt. Auf die vorstehenden Ausführungen unter I. wird insofern vollumfänglich Bezug genommen. Auch dies führt bereits für sich genommen dazu, dass der Mangel nicht als unerheblich zu werten ist.
Das lässt sich lesen! Ob das aber der obergerichtlichen Rechtsprechung und in letzter Konsequenz dem Bundesgerichtshof standhält, bleib abzuwarten.
Es stellt sich doch die Frage, ob die vereinbarte Beschaffenheit eines schadstoffarmen Fahrzeugs nicht einen anderen Bezugspunkt haben könnte. Nämlich hier die Einstufung in die Schadstoffklasse „EURO 5“.
Die Einhaltung wird durch die EG-Typgenehmigung bestätigt. Diese erteilt in Deutschland das Kraftfahrtbundesamt. Die Behörde kann die Genehmigung aber auch widerrufen. Hat das Kraftfahrtbundesamt aber nicht!
Der „Schummeldiesel“ hat weiterhin die Schadstoffklasse entsprechend der Typgenehmigung.
Wie das Landgericht beschreibt, prüft das Kraffahrtbundesamt die erforderlichen Nachrüstungen durch den Hersteller, damit die Typgenehmigung gerade nicht widerrufen werden muss.
Nach dem „Update“ der betroffenen Fahrzeuge wäre die Problematik erledigt. Aus dieser Sicht fast eine „normale“ Rückrufaktion.
Unter diesem Gesichtspunkte könnte schon das Vorliegen eines Mangels verneint werden, da die betroffenen Fahrzeuge ihre Schadnstoffklasse beibehalten. Vorausgesetz natürlich, dass Leistung und Verbrauch gleichbleiben.
In diesem Zusammenhang ist auch die Lektüre der vorhergegangenen Entscheidung des Landgerichts Münster (Urteil vom 14. März 2016 – 11 O 341/15, 011 O 341/15) und des Landgerichts Bochum (Urteil vom 16. März 2016 – 2 O 425/15, I-2 O 425/15) zu empfehlen.
Fazit:
Auch die Entscheidung des Landgerichts München trägt wie die vorangegangenen Entscheidungen nicht grundsätzlich zur Klärung der Rechte der „Dieselgate“ Betroffenen bei.
Eine Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes wäre wünschenswert, wird aber noch längere Zeit auf sich warten lassen. Betroffene können eine solche Entscheidung freilich nicht abwarten, da dann die Verjährung relevant werden könnten.
Die Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung ist m. E. der erfolgversprechendste Weg, funktioniert aber nur, wenn der Hersteller oder die Konzernmutter Verkäufer ist oder der Verkäufer in anderer Form mit dem Hersteller verflochten wäre.
Hier ist aber auf die Frist zur Anfechtung nach §§ 123, 124 I BGB zu achten. Die Arglist-Anfechtung kann nur binnen Jahresfrist nach eigener Kenntnis der Täuschung erfolgen.
Der Fristbeginn dürfte auf den Zeitpunkt des ersten öffentlichen Einräumens des Herstellers über die Verwendung der manipulierter Software gesehen werden.
https://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gif00Andreas Jedehttps://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gifAndreas Jede2016-07-08 11:00:182017-06-16 14:02:22Dieselgate: Mangel doch nicht unerheblich !?!
…zumindest eines mit einer im Auto festinstallierten Freisprecheinrichtung verbundenen Mobiltelefons während der Fahrt. Beachte dabei, keine zusätzliche Funktionen des Telefons zu nutzen.
Das gesetzgeberische Glanzstück § 23 Ia StVO wurde vom OLG Stuttgart (Beschluss vom 25. April 2016 – 4 Ss 212/16 –, juris) mal wieder ein bisschen näher konkretisiert. Es entschied:
Ein Kraftfahrzeugführer, der während der Fahrt ein mit einer Freisprechanlage verbundenes Mobiltelefon in der Hand hält und über die Freisprechanlage telefoniert, verstößt nicht gegen das Verbot der Benutzung von Mobiltelefonen gemäß § 23 Abs. 1a Satz 1 StVO, solange er keine weiteren Funktionen des in der Hand gehaltenen Geräts nutzt.
Na dann ist jetzt alles klar. Oder?
https://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gif00Andreas Jedehttps://www.drschmitz.de/wp-content/uploads/2008/08/logo_g.gifAndreas Jede2016-05-24 08:30:332017-06-16 14:02:30In der Hand halten erlaubt…
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