Gestörte Wahrnehmungen

KneifzangeDas scheint bei mir pathologisch zu sein:

Ich könnte schwören, daß sich in den letzten Tagen jede Titelseite und jede Nachrichtensendung mit einem ganz simplen Sachverhalt beschäftigt. Saure-Gurken-Zeit-Mitte-April?

  1. Im Fernsehen haben ein paar tausend Menschen ein als Schmähkritik bezeichnetes Elaborat gehört.
  2. Manche bewerten dieses Elaborat als Kunst, Satire, der Meinungsfreiheit unterfallend.
  3. Manche bewerten dieses Elaborat als Beleidigung.
  4. Die Handlung könnte eine Beleidigung (§ 185 StGB) und eine Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) darstellen.
  5. Zuständig für die Verfolgung ist die Staatsanwaltschaft; für eine Verfolgung gem. § 103 StGB ist u.a. eine Ermächtigung der Bundesregierung Voraussetzung (§ 104a StGB).
  6. Das gesunde Volksempfinden[1] meint, es müsse bei der Entscheidung berücksichtigt werden, daß Erdogan das Ziel der Äußerungen gewesen ist. Frei nach dem Motto: Some are more equal.

Kann mir irgendeiner erklären, warum sich ein denkender Mensch länger als 10 Minuten mit dem Thema beschäftigt?

Allenfalls könnte man darüber nachdenken, welche Überlegungen bei die Entscheidung nach § 104 a StGB anzustellen sind. Sicherlich ist die Bundesregierung kein Vorprüfungsausschuß für die Rechtsfrage[2], die nach unserem Verfassungsverständnis von den Gerichten, letztlich vom BVerfG, zu klären ist. Für die Bundesregierung stellen sich ausschließlich politische Fragen. Und die Antwort ist eindeutig: Das einzig richtige politische Signal an die Türkei ist: In einem freiheitlichen Rechtsstaat entscheidet die Justiz über Rechtsfragen, nicht der Präsident oder die Regierung.

Als Strafverteidiger kann ich mich nur wundern. Wahrscheinlich eine gestörte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Welcher Wirklichkeit?
Bild © A.Dreher_pixelio.de

  1. [1]„Aber das gesunde Volksempfinden liest eben auch „BILD“ und weist ganz generell erhebliche Erkenntnisvakanzen auf. Deshalb haben wir es durch eine Rechtsordnung ersetzt.“ Christian Franz
  2. [2]a.A. Alexander Thiele, Erlaubte Schmähkritik? Die verfassungsrechtliche Dimension der causa Jan Böhmermann

Der Trick der Bezirksrevisorin mit der Analogie

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LG Berlin – v. 31.03.2016 – 538 KLs 7-15 – zur Anrechnungsfreiheit eines ausschließlich für das Ermittlungsverfahren vereinbarten über dem dreifachen Satz der Wahlverteidigerhöchstgebühr liegenden Honorars auf die Tätigkeit des Verteidigers im gerichtlichen Verfahren

Die Bezirksrevisorin läßt das Mausen nicht: Mit immer neuen Tricks versucht die Landeskasse, auf Kosten der (Pflicht-) Verteidiger Geld zu sparen.

Ich habe mit dem Mandanten eine Honorarvereinbarung ausschließlich für das Ermittlungsverfahren getroffen. Diese lag über dem dreifachen Satz der Wahlverteigerhöchstgebühr der Nrn. 4101, 4103 und 4105 VV-RVG. In der späteren Hauptverhandlung vor der großen Strafkammer erging ein Beiordnungsbeschluss.

Im Kostenfestsetzungsverfahren habe ich unter Offenlegung des Inhalts der Honorarvereinbarung die Festsetzung der auschließlich vor der Strafkammer angefallenen Verfahrensgebühr und zweier Terminsgebühren beantragt.

Das klingt auf den ersten Blick völlig unproblematisch und unspektakulär – dachte ich -,

wird doch mit der Neufassung des § 58 Absatz 3 Satz 1 RVG i.V.m. § 17 Absatz 1 Nr. 10 a RVG nicht mehr nach Verfahrensabschnitten sondern gebührenrechtlichen Angelegenheiten differenziert.

Die zur Altfassung des § 58 Absatz 3 Satz 1 RVG ergangene obergerichtliche Rechtsprechung zur Anrechnung der für das Ermittlungsverfahren vereinnahmten Gebühren auf die Pflichtverteidigergebühren für das Hauptverfahren ist seit Inkrafttreten der Neufassung des § 58 Absatz 3 Satz 1 RVG hinfällig; das erkennen nun selbst die Berliner Kostenbeamten an:

Mit dem 2. KostRMoG vom 23.07.2013 wurde § 58 Abs.3 Sz.1 RVG dahingehend geändert, dass aus dem Begriff“…bestimmte Verfahrensabschnitte…“ die klarstellende Formulierung „…in einer gebührenrechtlichen Angelegenheit…“ erfolgte. Danach dürfte die oben zitierte Rechtsprechung (Anm. d. Verf.: KG, Beschl. v. 25.07.2008 -1 Ws 124/08) hinfällig geworden sein, und nunmehr unter Beachtung des § 17 Nr. 10 und 10 a) RVG (in der Fassung seit dem 01.08.2013) eine Anrechnung von erhaltenen Zahlungen nur auf Gebühren des Ermittlungsverfahrens bzw. nur auf Gebühren des gerichtlichen Verfahrens zulässig sein, wenn dies in einer Honorarvereinbarung zwischen dem Rechtsanwalt und dem Mandanten so vereinbart wurde.

Das Ergebnis dieser Überlegung des Bezirksrevisors ist eindeutig und dürfte keine Zweifel an der Anrechnungsfreiheit aufkeimen lassen. Wenn da nicht die Bezirksrevisorin selbst wäre, die mit ihrer eigenen Feststellung nicht einverstanden ist. Weiterlesen

Der Aktenscan ist das Nebenprodukt – Neues zur Nr.7000 Nr.1a RVG-VV

Mit hanebüchener Begründung wird seit Inkrafttreten der modernisierten Nr.7000 Nr.1a RVG-VV die Erstattung von Kopien aus den Gerichtsakten bei Nutzung eines handelsüblichen (Multifunktions-)Kopierers, wie er in jeder Kanzlei und jedem Gericht steht, abgelehnt.

Das LG Berlin, Beschl. v. 23.07.2015 – (537 KLs) 255 Js 381/14 (28/14) hat es auf die technikfremde Spitze getrieben:

Da der Verteidiger die Akten zuerst gescannt und dann ausgedruckt hat, sind Ausdrucke nicht erstattungsfähig. Vielmehr dienen diese Ausdrucke lediglich der Arbeitserleichterung für den Verteidiger.

Diese „missverständliche“ Passage findet sich seither gebetsmühlenartig in den (ablehnenden) Kostenfestsetzungsbeschlüssen. Absurd bleibt sie aber trotzdem:

Jeder moderne Kopierer scannt zunächst das Dokument, um sodann den Scan zu drucken.

Eine andere Reihenfolge als Scan –> Druck ist heute nicht mehr möglich. Druck –> Scan ist Museum.

Wir haben daher in einem Verfahren des erweiterten Schöffengerichts nachdem die Akten bei uns „gescannt“ wurden, folgende Anträge gestellt:

Die Notwendigkeit der Herstellung eines vollständigen Ausdrucks der durch den Verteidiger „gescannten“ Gerichtsakte festzustellen;

hilfsweise, einen vollständigen Ausdruck der auf der beigefügten DVD (Aktenscan) enthaltenen Dateien zu fertigen;

weiter hilfsweise, ein vollständiges Doppel der Akten in Papierform für die Dauer des Verfahrens zur Verfügung zu stellen oder

hilfsweise das Kammergericht zu ersuchen, in Amtshilfe das beantragte Aktendoppel zu fertigen.

Im taufrischen Beschluss findet der Vorsitzende des erweiterten Schöffengerichts deutliche Worte (Bild anklicken vergrößert):

Kopierbeschluss_anonym_k_Seite_1

Kopierbeschluss_anonym_k_Seite_2

Beinahe jeder der heute erhältlichen handelsüblichen Kopierer (einschließlich der beim Amtsgericht Tiergarten und beim Landgericht Berlin Vorgehaltenen) erstellt allerdings erst eine elektronische Datei des zu kopierenden Dokumentes, die dann anschließend ausgedruckt wird. Diese temporär gespeicherten Scandateien können aus einem Photokopierer ausgelesenen und auf einem PC oder einem Rechner des Herstellers Apple lnc. mittels geeigneter Programme problemlos sichtbar gemacht werden. Würde man also dem Wortlaut der zuvor zitierten Entscheidung des Landgerichts Berlin folgen, hätte das zur Konsequenz, dass für die Vorschrift Nr. 7000 Nr. 1 a) W RVG kein Anwendungsbereich eröffnet ist, da nach dem heute maßgeblichen technischen Standard eine Photokopie nicht ohne vorherigen Scan hergestellt werden kann. Eine derartige Auslegung der Vorschrift verbietet sich daher. Sie ist vielmehr so zu interpretieren, dass unter Zuhilfenahme von im Handel erhältlichen Kopiergeräten selbstverständlich Photokopien gefertigt und abgerechnet werden können. Wenn ein Verteidiger dann die Scandaten eines Kopiergerätes ausliest und sich für eigene weitere Zwecke nutzbar macht, führt dies nicht zum Erlöschen des Erstattungsanspruchs, sondern stellt letztlich einen vom Gesetzgeber in Kauf genommenen zusätzlichen Nutzen für den Verteidiger dar, für den er natürlich neben der Gebühr Nr. 7000 Nr. 1 a W RVG keine weitere Vergütung abrechnen darf. (Herv. hier)
Beschluß AG Tiergarten (215 Ls) 255 Js 772/13 (4/16) v. 24.03.2016

Ich erwarte trotzdem einen Kampf mit dem Rechtspfleger, aber für den bin ich nun gerüstet!

Was bleibt ist die bisherige Erstattungsunfähigkeit des reinen Aktenscans.

Leider habe ich es versäumt zu beantragen, mir die Akte bereits digitalisiert zur Verfügung zu stellen.

Das nächste Mal!

Fachaufsichtsbeschwerde vs. Dienstaufsichtsbeschwerde

Zweifelhafte Damen Da brat mir doch einer einen Storch!

Ich habe gegen die Entscheidung eines Staatsanwaltes einer nicht so ganz kleinen Staatsanwaltschaft eine Fachaufsichtsbeschwerde erhoben und begründet.

Offensichtlich zu lang begründet, denn die Antwort des Herrn Leitenden Oberstaatsanwaltes vermittelte mir nicht den Eindruck, er habe sie gelesen. Kurz und bündig wies er meine Dienstaufsichtsbeschwerde zurück.

Ich habe eine Gegenvorstellung erhoben und unter anderem darauf verwiesen, daß ich es vorgezogen hätte, wäre die Fachaufsichtsbeschwerde von ihm persönlich bearbeitet worden. Er wies die Gegenvorstellung ebenfalls zurück und konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen:

Vorsorglich weise ich ferner daraufhin, dass die aufsichtliche Prüfüng Ihrer „Fachaufsichtsbeschwerde“ durch mich erfolgt ist. Gegebenenfalls bitte ich um Erläuterung, worin ein – sich mir nicht erschließender – inhaltlicher Unterschied zwischen einer „Fach-„ und einer „Dienstaufsichtsbeschwerde“ liegen soll.

Ich mag nicht mehr. Für alle, die den Unterschied wissen möchten:

Die Dienstaufsichtsbeschwerde ist ein formloser Rechtsbehelf, mit dem das persönliche Verhalten eines Mitarbeiters im Öffentlichen Dienst gerügt wird. Ziel der Dienstaufsichtsbeschwerde ist es, dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen ihn zu veranlassen. Eine Änderung der Sachentscheidung ist nicht das Ziel der Dienstaufsichtsbeschwerde.

Die Fachaufsichtsbeschwerde dient dazu, Fehler bei einer Verwaltungsentscheidung aufzuzeigen und eine andere Sachentscheidung zu erreichen. Das persönliche Verhalten des Mitarbeiters wird nicht in Frage gestellt. Oder anders formuliert: Eine Dienstaufsichtsbeschwerde ist ein Angriff gegen die Person, eine Fachaufsichtbeschwerde wendet sich allein gegen die Entscheidung.

Der Fisch stinkt vom Kopfe her.

Der Strafverteidiger als Bittsteller

Es ist nicht auszurotten, die Angewohnheit mancher Kollegen, statt Anträge zu stellen, Bitten zu äußern.

Das haben auch schon die Behörden erkannt und sehen den Strafverteidiger als Bittsteller.

Wir beantragen, uns Akteneinsicht zu gewähren. Nicht ein Standard-Verfahren, in dem die Zeitabläufe keine besondere Rolle spielen, sondern mit vorangegangener Durchsuchung der Räume und Beschlagnahme von Wertgegenständen, also einem massiven Eingriff in die Grundrechte des Mandanten.

Und was bekommen wir als Antwort, mit dickem Siegel beglaubtigt (klicken Sie auf das Bild!)?

AE-Antwort_anonym

Im völlig verquasten Deutsch wird uns eine Frage beantwortet, die wir nicht gestellt haben. Ich will nicht wissen, ob die Akten versandt sind. Ich will die Akten!

Mein Antrag wird zum Gesuch umgedeutet. Was sagt mein Lieblingswörterbuch dazu?

d) in der neueren entwicklung wird gesuch in erster linie für diejenige form der bitte oder aufforderung gebraucht, die auf dem umständlicheren schreibverkehr beruht: haben uns auf das unterthänigste gesuch des legazionsrathes Jean Paul Friedrich Richter in Baireuth gnädigst bewogen gefunden etc. Badische verlagsprivilegien für Jean Paul Werke 1. einl. 41. und so gewöhnlich im canzleistil.

Vielleicht hat der Staatsanwalt unseren Beitrag zum Kanzleistil verinnerlicht?

Oder ist er ein schlichteres Gemüt und verwendet den Begriff wie der Duden?

Schreiben, das eine Privatperson an eine Behörde oder an jemanden mit entsprechender Befugnis richtet, um in einem bestimmten Fall eine Bewilligung oder Genehmigung zu erhalten

Kommt dem Herrn Staatsanwalt unser Antrag ungelegen, so ist das bedauerlich, stört vielleicht die Kreise, ändert aber nichts daran, daß er über den Antrag entscheiden muß und nur im gesetzlich eng geregelten Fall negativ entscheiden darf.

Darüber hinaus ist die „Vertagung“ auch nicht im Interesse der Strafverfolgunsbehörde. Ohne Akteneinsicht keine Einlassung des Beschuldigten. Und die Einlassung des Beschuldigten – zumindest wenn sie aus der Feder eines Strafverteidigers erfolgt – verkürzt das Verfahren häufig erheblich und erspart u.U. aufwendige weitere Ermittlungen.

Glaubt der Staatsanwalt tatsächlich, daß mein Mandant nach einer Durchsuchung und umfangreichen Beschlagnahmen jetzt abwarten will? Hat er sich im Baustein vergriffen und wollte die Akten eigentlich zurückfordern? Hallo! Es geht um verfahrensrechtliche Grundrechte des Beschuldigten und seines Verteidigers und nicht die Bequemlichkeit eines Staatsanwaltes und seines Apparates.

Zur Ehrenrettung: In den meisten Fällen fragt der Staatsanwalt bei uns an, ob wir abwarten wollen oder er die Akten zurückfordern soll. Und manches Mal kann man dem Mandanten dann informieren: „Warten wir noch ab, die Akten sind bei XY und es ist in Ihrem Interesse abzuwarten.“