Rechtfertigen „gefühlte“ Risiken staatliches Handeln?
Festveranstaltung zum 5-jährigen Bestehen
des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR)
vom 7. November 2007
Tagungsband
Ursachen gefühlter Risiken
Professor Dr. Gerd Gigerenzer
Direktor am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Science-Fiction-Autor Herbert George Wells in seinen politischen Schriften prophezeit: Wenn wir mündige Bürger in einer modernen technologischen Gesellschaft möchten, dann müssen wir ihnen drei Dinge beibringen: Lesen, Schreiben und statistisches Denken, das heißt den vernünftigen Umgang mit Risiken und Unsicherheiten. Wie weit sind wir heute, fast 100 Jahre später, gekommen? Nun, wir haben den meisten von uns Lesen und Schreiben beigebracht, aber nicht den Umgang mit Risiken und Unsicherheiten und nicht statistisches Denken.
Er führt in dem Beitrag mehrere Beispiele an, es geht um Spezifität und Sensitivität
Nehmen Sie an, Sie sind eine Frau über 50 und folgen der Aufforderung, zum Screening zu gehen. Sie testen positiv, und nun wollen Sie von der Ärztin wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass Sie wirklich Brustkrebs haben. Die medizinische Forschung hat dazu ein klares Ergebnis: Von zehn Frauen, die im Screening positiv testen, haben neun keinen Brustkrebs, eine hat Krebs. Wenn Frauen diese Information hätten, könnten sie entspannter in das Screening hineingehen und auf einen positiven Test nicht mit Todesangst reagieren. Aber verstehen ihre Frauenärzte diese Wahrscheinlichkeit?
Ich habe in den letzten Jahren Ärzte in Risikokommunikation trainiert. Im vergangenen Jahr hatte ich alleine 750 Gynäkologen, die Bescheid wissen müssten und in der Lage sein sollten, einer Frau zu erklären, was ein positiver Test bedeutet. Vor einem der Trainingssitzungen fragte ich 160 Gynäkologen:
Angenommen, Sie führen in einer bestimmten Gegend Brustkrebsfrüherkennung mittels Mammografie durch. Über die Frauen in dieser Gegend wissen Sie Folgendes: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau Brustkrebs hat, beträgt etwa 1 % (Prävalenz). Wenn eine Frau Brustkrebs hat, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das Mammogramm positiv ist, bei 90 % (Sensitivität). Wenn sie keinen Brustkrebs hat, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit 9 %, dass der Test dennoch positiv ausfällt (Falsch-Positiv-Rate). Eine Frau testet positiv. Sie möchte von Ihnen wissen, ob sie jetzt tatsächlich Brustkrebs hat oder wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür ist. Was ist die beste Antwort?
Die Ärzte konnten zwischen vier Alternativen wählen: 1 %, 10 %, 81 % oder 90 %. Die Darstellung der Informationen in Form von bedingten Wahrscheinlichkeiten (z. B. Sensitivität) ist in der Ausbildung von Medizinern und in medizinischen Fachjournalen üblich. Hier ist das Ergebnis:
Von den befragten 160 Gynäkologen kamen nur 21 % zur richtigen Schlussfolgerung, nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit von Brustkrebs nach einem positiven Mammogramm bei 10 % (1 in 10) liegt. 19 % der Gynäkologen glaubten aber, diese Wahrscheinlichkeit betrage nur 1 %, während 60 % der Meinung waren, sie betrage 81 % oder 90 %. Wenn Patienten von dieser Streubreite der Urteile wüssten, wären sie zu Recht verunsichert. Die häufigste Antwort war „9 von 10“, also 90 %, obgleich es 1 von 10 heißen müsste. Es ist fast unglaublich, dass in Bezug auf Krebs-Screening selbst den meisten Frauenärzten die einfachsten und wichtigsten Informationen über Risiken nicht bekannt sind. Nach einer Stunde Training in Risikokommunikation kann dieses Defizit behoben werden: Die Ärzte lernen, die Information in natürlichen Häufigkeiten statt in den verwirrenden bedingten Wahrscheinlichkeiten zu kommunizieren, und am Ende der Trainingseinheit von einer Stunde Dauer hatten es die meisten verstanden, wenn auch nicht alle.
Gruselig! Der ganze Band ist spannend. Auch der Vergleich zwischen den wissenschaftlichen Vorträgen und den politischen Beiträgen.