Gestörte Wahrnehmungen
Das scheint bei mir pathologisch zu sein:
Ich könnte schwören, daß sich in den letzten Tagen jede Titelseite und jede Nachrichtensendung mit einem ganz simplen Sachverhalt beschäftigt. Saure-Gurken-Zeit-Mitte-April?
- Im Fernsehen haben ein paar tausend Menschen ein als Schmähkritik bezeichnetes Elaborat gehört.
- Manche bewerten dieses Elaborat als Kunst, Satire, der Meinungsfreiheit unterfallend.
- Manche bewerten dieses Elaborat als Beleidigung.
- Die Handlung könnte eine Beleidigung (§ 185 StGB) und eine Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) darstellen.
- Zuständig für die Verfolgung ist die Staatsanwaltschaft; für eine Verfolgung gem. § 103 StGB ist u.a. eine Ermächtigung der Bundesregierung Voraussetzung (§ 104a StGB).
- Das gesunde Volksempfinden[1] meint, es müsse bei der Entscheidung berücksichtigt werden, daß Erdogan das Ziel der Äußerungen gewesen ist. Frei nach dem Motto: Some are more equal.
Kann mir irgendeiner erklären, warum sich ein denkender Mensch länger als 10 Minuten mit dem Thema beschäftigt?
Allenfalls könnte man darüber nachdenken, welche Überlegungen bei die Entscheidung nach § 104 a StGB anzustellen sind. Sicherlich ist die Bundesregierung kein Vorprüfungsausschuß für die Rechtsfrage[2], die nach unserem Verfassungsverständnis von den Gerichten, letztlich vom BVerfG, zu klären ist. Für die Bundesregierung stellen sich ausschließlich politische Fragen. Und die Antwort ist eindeutig: Das einzig richtige politische Signal an die Türkei ist: In einem freiheitlichen Rechtsstaat entscheidet die Justiz über Rechtsfragen, nicht der Präsident oder die Regierung.
Als Strafverteidiger kann ich mich nur wundern. Wahrscheinlich eine gestörte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Welcher Wirklichkeit?
Bild © A.Dreher_pixelio.de
- [1]„Aber das gesunde Volksempfinden liest eben auch „BILD“ und weist ganz generell erhebliche Erkenntnisvakanzen auf. Deshalb haben wir es durch eine Rechtsordnung ersetzt.“ Christian Franz↩
- [2]a.A. Alexander Thiele, Erlaubte Schmähkritik? Die verfassungsrechtliche Dimension der causa Jan Böhmermann↩
Sicherlich herrscht momentan keine mediale Saure-Gurken-Zeit.
Fragt sich nur, von welchen Brandthemen wir abgelenkt werden sollen – und offensichtlich auch erfolgreich abgelenkt werden.
„Sicherlich ist die Bundesregierung kein Vorprüfungsausschuß für die Rechtsfrage“
Doch, mit dem §104a StGB wird sie es, da er ihr ein Veto bezüglich der Frage einräumt, ob auf die Klage eines ausländischen Staatsoberhaupts ein staatsanwaltschaftlicher Antrag auch nach §103 StGB oder lediglich nach einem anderen einschlägigen Tatbestand folgt (N.B.: Der Rechtsschutz ausländischer Staatsoberhäupter z.B. gegen Beleidigugen oder Verleumdungen oder gar verleumderischen Beleidigungen bestaht unabhängig von einer Ermächtigung nach §104a StGB).
Freilich trägt die Regierung damit auch eine politische Last, greift einer gerichtlichen Entscheidung jedoch keinesfalls vor.
Nein, die Bundesregierung hat kein Vetorecht in dieser Frage. Sie muß entscheiden, ob sie zur Strafverfolgung, also die Ermittlungen durch die Staatsanwwaltschaft, ermächtigt. Eine Klage ist nicht Voraussetzung der Prüfung. In unserem Rechtsstaat ist die Prüfung der Fragen, ob eine strafbare Handlung begangen wurde oder nicht und ob eine Bestrafung zu erfolgen hat, den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten übertragen worden. Die Exekutive hat sich dort herauszuhalten.
Jeder, auch ein ausländisches Staatsoberhaupt genießt den Beleidigungsschutz (den es defacto nicht mehr gibt). § 103 gewährt einen besonderen Schutz und droht eine höhere Strafe an. Die Legislative mag ihn abschaffen. Noch ist die Norm anzuwenden.